LM-1945

Weilburg

Erinnerungen von Heinrich Schwing

[ Erinnerungen von Heinrich Schwing, S. 220ff]

 

Montag, 26. März 1945

Als am Nachmittag des 26. März die Nachricht durch Weilburg lief, die Amerikaner stünden in Obertiefenbach, fand das Gerücht zunächst wenig Glauben, denn die Front verlief, so meinte man, bei Montabaur. Man wurde aber bald eines besseren belehrt, als kleine Wehrmachtseinheiten, die in Weilburg lagen, überstürzt abrückten und das Landratsamt bestätigte, dass mit Obertiefenbach keine Verbindung mehr bestand. Trümmer des Heeres zogen durch Weilburg - ein jammervoller Anblick: deutsche Soldaten auf requirierten Bauernwagen, die sogar manchmal mit einem Pferd und einer Kuh bespannt waren! Nun glich Weilburg einem aufgestörten Ameisenhaufen, die Bevölkerung bereitet sich auf ihre Art auf den Einzug der Amerikaner vor: die Bäckereien waren schnell leergekauft, Wertsachen wurden vergraben, "gefährliche" Papiere wurden vernichtet, Hitlerbilder und "Mein Kampf" verbrannt (später haben amerikanische Soldaten solche Dinge als "Souvenirs" gut bezahlt! Viele Bürger bezogen, mit Proviant versehen, Luftschutzkeller und Stollen. Diese Vorsichtsmaßnahme entsprang nicht etwa übertriebener Angstlichkeit, denn nach Aussage eines Wehrmachtskommandanten, eines Obersten, sollte die "Lahnlinie " gehalten werden wie die vorher erwähnte Moselfront, und die Stadt sollte bis zum äußersten verteidigt werden. Eine besondere Rolle spielten dabei die Brücken: es lag ein Wehrmachtsbefehl vor, sämtliche Lahnübergänge zu sprengen. Geschah dies, so waren schwere Schäden für die Stadt unvermeidlich, obwohl die Wirkung für die Verteidigung sehr fragwürdig war. ...
Um Gefahren für die Stadt Weilburg abzuwenden, bemühte sich Bürgermeister Karl Bausch, den Wehrmachtskommandanten dazu zu bringen, von der sinnlosen Sprengung der Steinernen Brücke abzusehen, und erreichte die halbe Zusage, daß sie unterbleiben werde, wenn nicht Panzer den Übergang zu erzwingen versuchten. Das ängstliche Verhalten der Wehrmacht hatte seinen Grund in der Tatsache, daß der Befehlshaber bei der Remagener Rheinbrücke auf Befehl Hitlers aufgehängt worden war, weil er die Brücke nicht gesprengt hatte. Ein beherzter Weilburger Bürger versuchte die Zerstörung der Steinernen Brücke unmöglich zu machen, indem er in der Nacht zum 27. März, als sich der Wachtposten kurz entfernt hatte, trotz der dringenden Warnung vor "Sabotage ", die Zündschnur in der Niedergasse durchschnitt, aber in den frühen Morgenstunden wurde der Schaden entdeckt und die Leitung wieder geflickt.

 

Dienstag, 27. März 1945

Die Nacht über war in einiger Entfernung schwaches Artilleriefeuer zu hören, am frühen Morgen des 27. März lag dicker Nebel über dem Tal. Da erschütterte beim Tagesgrauen eine schwere Detonation die Luft: der (militärisch bedeutungslose) eiserne Ernst-Dienstbach-Steg war in zwei Teilen zerrissen, den einen hat später das Hochwasser ein ganzes Stück mit mitgenommen. Zahlreiche Fensterscheiben oben in der Stadt waren herausgeflogen. Eine Stunde später ging die Eisenbahnbrücke hoch, aber ohne durchschlagenden Erfolg: die obere der beiden Brücken war so wenig beschädigt, daß die Amerikaner sie gleich nach ihrem Einzug als Einbahn-Fahrtstraße für ihre zurückfahrenden Armeefahrzeuge herrichten konnten. Als nun der erste amerikanische Panzer am "Nasssauer Hof" erschien, wurden, wie angekündigt, die beiden mittleren Bogen der Steinernen Brücke gesprengt. Die schweren Steinbrocken flogen Hunderte von Metern weit, sogar bis auf den Marktplatz, und richteten erhebliche Schäden an den Häusern an. Die Gewölbe der Brücke waren aber derart fest gebaut, daß sie standhielten und wenigstens eine schmale Verbindung stehen blieb, über die Waghalsige hinüberturnen konnten. ...
Es war etwa 11 Uhr, als die amerikanische Infanterie einrückte und die Westerwaldseite besetzte, ohne hier auf Widerstand zu stoßen. Alles kam reichlich verängstigt aus Kellern und Stollen heraus, und bald flatterten aus den Fenstern und von Balkonen weiße Tücher zum Zeichen der Übergabe.
Vergebens durchsuchten die Amerikaner die Häuser nach deutschen Soldaten; die kleine Kampfgruppe von höchsten 30 Mann hatte sich auf die Taunusseite zurückgezogen und hielt von den Häusern der Niedergasse vom Schloß aus die Steinerne Brücke unter Feuer - fünf (!) Patronen hatte jeder Schütze, andere Schußwaffen fehlten ganz. ... Der Volkssturm, der einige Wochen zuvor auf dem Marktplatz vereidigt worden war, wurde hier gar nicht eingesetzt, sondern war in Richtung Limburg in Marsch gesetzt worden, soweit sich die Volkssturmmänner überhaupt gestellt hatten, und manche von ihnen haben noch eine unangenehme Zeit der Gefangenschaft erlebt.
Die Amerikaner versuchten den Lahnübergang an diesem Tag gar nicht zu erzwingen, sondern fuhren in Richtung Löhnberg- Wetzlar weiter. Am Nachmittag beschoß ein Panzer, in der Bahnhofstraße hin und her fahrend, das Schloß, aber die leichten Granaten prallten an der dicken Mauer ab, nur Dach und Fenster litten Schaden, und auch das berühmte steinerne Hündchen fiel der Beschießung zum Opfer und mußte später durch einen Nachfolger ersetzt werden. Leider kam bei der Beschießung des Schlosses ein Junge ums Leben.
Das Ergebnis des 27. März war, daß die Stadt durch die Lahn in zwei Teile geteilt war, ohne ein Herüber und Hinüber. Da es auf der Westerwaldseite damals keine Bäckerei gab, mußten die Bewohner Brot in Waldhausen einkaufen.

 

Mittwoch, 28. März 1945

In der Nacht zum 28. März hatte sich die deutsche Kampfgruppe bis an die Neue Kaserne zurückgezogen. Nun rückten die Amerikaner über die Reste der Steinernen Brücke vorsichtig nach und besetzten die Innenstadt. Als sie auf der Höhe der Frankfurter Straße Gewehrfeuer erhielten, fuhr eine Batterie auf dem Odersbacher Feld in der Nähe der Hauseley auf und beschoß das Gelände vor der Neuen Kaserne. Auch hierbei kam ein Zivilist um, der Vorsteher des Finanzamtes, der wohl in einer vermeintlichen Feuerpause den Keller verließ und dabei getroffen wurde. Während der Kämpfe um die Stadt sind drei Zivilpersonen verwundet worden und zehn deutsche Soldaten gefallen, diese wurden am 3. April (Osterdienstag) unter starker Beteiligung der Bevölkerung auf dem Friedhof beerdigt. Wie hoch die Verluste der Amerikaner waren, ist unbekannt, denn ihre Gefallenen wurden sofort nach Westen abgefahren.
Nachdem sich die Reste der deutschen Kampfgruppe "abgesetzt" hatten, war die Besetzung der Stadt vollendet. ...
Schon am 28. März schoben die Amerikaner eine lange Eisenkonstruktion über die Reste der Steinernen Brücke, versehen mit einem Holzbelag, den sie auf Zimmerplätzen der Nachbarschaft requiriert hatten, und bauten einen Fußgängersteg an. Damit war die Brücke auch für die schwersten Fahrzeuge sofort wieder befahrbar. ... Das Stadtgebiet durfte anfangs gar nicht, später nur bis zu einem Umkreis von 6 Kilometer verlassen werden. Posten und Streifen der MP (Military Police) sorgten dafür, daß diese Bestimmungen strikt befolgt wurden, und verlangten, die neu ausgestellten Personalausweise zu sehen.
Schon am Vormittag des 28. März wurden an allen Anschlagtafeln große Plakate mit den Anordnungen der Militärregierung angeklebt, die die wichtigsten Gesetze in englischer und deutscher Sprache verkündeten, ein Beweis, wie eingehend und sorgfältig die Besetzung von Verwaltung der deutschen Gebiete vorbereitet war. Eine "Bekanntmachung an die Zivilbevölkerung'" enthielt u. a. folgende Bestimmung: Ansammlungen von mehr als fünf Personen zu Diskussionszwecken, auch in Privatwohnungen, sind verboten. Private Kraftwagen und Motorräder dürfen nicht benutzt werden. Öffentliche Vergnügungsveranstaltungen dürfen nur mit Genehmigung der Militärregierung stattfinden. Alle Sendeapparate, Schusswaffen, Sprengstoff, Kriegsmaterial sind sofort abzuliefern. Der Gebrauch von Fotoapparaten und Feldstechern ist verboten. Jeglicher Nachrichtenverkehr (Post, Fernsprechverkehr) wird sofort eingestellt. Verboten sind unzensierte Zeitungen und Plakate, deutsche Fahnen, das Singen von Nationalhymnen oder anderen patriotischen Liedern. Alle Angehörigen der Wehrmacht und der Waffen-SS müssen sich sofort der nächsten Militärbehörde stellen, andernfalls werden sie als Spione betrachtet, Personen, die Angehörigen der Wehrmacht Unterkunft gewähren, müssen dies dem nächsten Offizier der Militärregierung mitteilen.
Gesetz Nummer 1 enthielt die Aufhebung von neun nationalsozialistischen Gesetzen, zum Beispiel der Nürnberger Gesetze. Durch Gesetz Nummer 5 wurde die NSDAP mit ihren sämtlichen 60 Organisationen aufgelöst, das besonders umfangreiche Gesetz Nummer 53 verzeichnete die Bestimmungen der Devisenbewirtschaftung, Gesetz Nummer 161 verbot den Verkehr aus und nach Deutschland "in den Grenzen, welche am 31. Dezember 1937 bestanden haben ".

 

Quelle:
Kreisheimatstelle des Landkreises Limburg-Weilburg (Hg.)
"Eigentlich ist kaum Zeit zum Schreiben ..",
Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitzeugen an das Kriegsende 1945
im Landkreis Limburg-Weilburg, Limburg 2005