LM-1945

Schupbach

Gerhard Eller, Frühe Jahre

Eller, Frühe Jahre, BI. S. 39ff

 

Sonntag, den 25. März 1945

Es war ein sonniger, herrlicher Frühlingstag. Feindliche Bombenverbände und Tiefflieger waren kaum zu sehen, sollte es die Ruhe vor dem Sturm sein? Von unserm alten Nachbarn, Wassermanns Opa (Wilhelm Nickel), der den 1. Weltkrieg als Soldat mitgemacht hatte, wollten wir (G. Eller und seine Spielkameraden) erfahren, wie er die militärische Lage einschätze. Er rechnete, was auch genau eintrat, daß die Amerikaner in zwei Tagen hier sind Jetzt bekamen wir Angst. Sollte denn wirklich der Krieg verloren sein, nachdem unsere Soldaten doch so viele und große Siege errungen hatten. Noch konnten wir dieses nicht glauben. Kann ein Leben unter einer Besatzungsmacht noch Lebensfreude bringen? Es ist für uns unvorstellbar. Diese Gedanken und Überlegungen quälten unser Hirn.


Montag, 26. März 1945

Vormittags waren verstärkt feindliche Jagdflieger zu sehen. Immer wieder kreisten sie und drehten aber dann wieder ab. Zu Luftkämpfen kam es nicht. Die spärlichen Nachrichten über den Rundfunk ließen Schlimmes erahnen.
Eine fast endlos scheinende Gefangenenkolonne, bestehend aus vielen Nationen, marschierten durch unser Dorf in Richtung Gaudernbach. Es war ein trauriger Zug, schwerfällig schleppten sich die / Gefangenen weiter, trugen ihre verschabten Uniformmäntel und hatten die meist verschlissenen Taschen aus Segeltuch über ihre Schulter gehängt. Zuvor hatte ein Teil der Gefangenen in der Scheune übernachtet, die paralell (sic) zur heutigen Straße "Am Ring" direkt gegenüber vom heutigen Wohnhaus von Walter Hautzel gelegen war. Die Scheune hatte die Einfahrt direkt von der Straße her. Das langgestreckte Wohnhaus, heute im Besitz von Otto Leukel, ist in seinen Grundmaßen erhalten geblieben und gehörte mit der Scheune und dem Gebäudekomplex zum einstigen Hofgut des Klosters Beselich. Wir Kinder holten Brot und steckten den Gefangenen kleine Portionen zu, das auch von der Wachmannschaft geduldet wurde. Später erfuhren wir, daß das Gefangenenlager bei Limburg / Diez Stallag genannt - aufgelöst worden war und die Gefangenen vor den vorrückenden amerikanischen Verbänden weiter in Richtung Osten vorangetrieben wurden. Wie weit diese Formation kam, weiß man nicht. Das Elend der Gefangenschaft wurde hier sehr deutlich. Vierundzwanzig Stunden später sollten wir an gleicher Stelle die ersten deutschen Soldaten sehen, die mit erhobenen Händen in die Kriegsgefangenschaft gehen. Das Wort aus der Antike " Wehe den Besiegten" hat auch heute, trotz Genfer Konvention, seine Wahrheit nicht verloren!!

Nachmittags hatten wir Unterricht in der Obertiefenbacher Volksschule. Meine Mutter untersagte mir / zum Unterricht zu gehen, sie betrachtete die Situation als zu gefährlich. Nachmittags ließen die Tieffliegerangriffe nach und mein Vater fuhr mit zwei Pferden im Gespann mit Josef, unserem Italiener, zum Hafersäen zur Dickebach* . Die Frühjahrsbestellung hatte für ihn äußerste Priorität. Er war ein unerschrockener Mann, so schnell fürchtete er sich nicht und selbst die nicht zu übersehenden Truppenbewegungen "auf der Meil" konnten ihn nicht von seiner Arbeit abhalten. Während der Bestellung wurden die Tieffliegerangriffe immer heftiger, und letztlich spannten sie die Pferde schnell aus und jagten in den Wald und suchten Schutz im dichten Dickicht. Der Beschuß wurde immer stärker, es krachte und hagelte im Gehölz. Plötzlich schrie der Gefangene laut auf und rief" "Du Chef, jetzt hier eins vorbei ". Er meinte. ein Geschoss. Aber Vater wollte die Gefahr immer noch nicht sehen, wurde aber schnell eines anderen belehrt. Plötzlich stürmten deutsche Soldaten durch den Wald direkt auf sie zu und riefen: " Was macht ihr denn noch hier, die Amerikaner stehen schon vor Obertiefenbach, unser Fahrzeug wurde gerade in Brand geschossen." Jetzt ging es aber im Trab nach Hause und waren erleichtert, als sie unverletzt den Hof erreichten. . ..

... Am Spätnachmittag glich unser Dorf einem wahren Hexenkessel. Einheiten der Wehrmacht rasten durch den Ort, es sollte eine Auffangstellung errichtet werden. Nervosität und Hektik war bei den Soldaten und auch bei der Zivilbevölkerung in steigendem Maße zu bemerken. Als gegen Abend die Truppenbewegung nachließ, sah man vereinzelt weiße Fahnen aus den Fenstern wehen. Ein Zeichen der Übergabe und der Kapitulation. Einzelne Familien zogen in nahegelegene Stollen, aus Angst das Dorf könnte beschossen werden.
Doch plötzlich kam - ich glaube - eine SS-Einheit zurück. Ein Offizier, immer noch bereit zu kämpfen, lief wütend durch 's Dorf und fuchtelte immer wieder mit der Pistole in der Hand und schrie: "Holt diesen weißen Fetzen herein oder ich lasse das Dorf zusammenschießen. Aus Angst wurden die Bettücher wieder hereingeholt. Jetzt sickerte eine Meldung durch, daß die Amerikaner in Obertiefenbach seien und über die Meil in Richtung Weilburg vorstoßen. Die Fa. Krämer, Limburg unterhielt im Gasthaus zum Adler ein Lager mit Zigarren, bis jetzt hatte niemand eine Ahnung davon. Nun wurde / geplündert. Kistenweise flogen die Zigarren auf die Straße, und alle bedienten sich, auch die zurückflutenden Soldaten. Das RAD-Lager ** wurde ebenfalls geplündert. Ein Chaos und wildes Durcheinander kündigten den nahenden Zusammenbruch an.
Vom einstigen Stolz unserer Truppen war nichts mehr zu sehen. Aus ihrem Gesichtsausdruck konnte man lesen, was sie bewegte: ein ungewisses Schicksal liegt vor ihnen, wenn sie überleben - nach fast sechs Jahren Krieg und Entbehrung können nun noch schlimmere Zeiten folgen, ist der Körper diesen Strapazen einer Kriegsgefangenschaft noch gewachsen? Aber trotzdem gaben vereinzelte nicht auf und leisteten erbitterten Widerstand.
Es war damit zu rechnen, dass die Amerikaner erst gegen Morgen wieder weiter vorgehen, und darauf stellte man sich nun ein. Weiße Fahnen wurden nun wieder gehißt.
An Schlaf war nicht zu denken, man hatte Angst.

* Name einer Flurbezeichnung

** Reichsarbeitsdienst


Dienstag. den 27. März 1945

Nach Mitternacht, es mag zwischen 2 und 3 Uhr gewesen sein, wurden wir durch Motorenlärm und Kettengerassel jäh aufgeschreckt. Frau Stein, eine evakuierte Frau aus Frankfurt, sie wohnte bei Hannesse *, rief am Fenster: "Frau Eller, sie kommen. " Ich höre heute noch den ängstlichen Ruf .Man hörte die Panzer herankommen. / Uns klopfte das Herz, man spürte es im Hals schlagen. Langsam öffneten wir die Jalousien, damit wir durch einen Spalt auf die Straße sehen konnten. Wassermann Opa ** stand am (sic) seinem Hoftor und im Flüsterton ging das Gespräch über die Straße. Plötzlich Gestalten, wie aus dem Boden geschossen, links und rechts der Straße, ganz dicht an den Häusern vorbei, lautlos. Zuerst glaubten wir es seien noch deutsche Soldaten, aber o' Schreck, das waren ja die Amerikaner, ihre Maschinenpistole im Anschlag. So schnell er konnte verschwand der Nachbar ins Haus. Der Stoßtrupp vor den Panzern war doch ein Himmelfahrtskommando.
Ein ängstliches Gefühl machte sich nun breit, das war also der Feind, vor dem unsere Heimat geschützt werden sollte. Nun war er da, und alles bisherige war umsonst.

Das Dröhnen der Panzermotoren wurde nun lauter. Sie fuhren nach einer alten Karte, in der die Eckerstraße als Hauptstraße angegeben war, und zwängten sich mit den Panzern durch die enge Straße. Jetzt setzte Artilleriebeschuß ein. Ein Geschoß traf das Haus der Vereinsbank und schlug ein großes Loch ins Mauerwerk. Dazwischen immer wieder Maschinengewehr Feuer. Die Panzerkolonne stoppte am Ortsausgang nach Gaudernbach, sie waren auf Widerstand gestoßen. Erst allmählich ging es langsam weiter und die Schüsse wurden weniger. Neugierig aber ängstlich / wagten wir einen Blick durch die Jalousien und sahen die ersten Jeeps, schnelle, leichte Flitzer mit aufgebautem Maschinengewehr und einer Riesenantenne. Über Funk konnten sie Befehle empfangen und weitergeben. Immer wieder fuhren Jeeps, gekennzeichnet mit dem Roten Kreuz zurück. Sie holten ihre Gefallenen und Verwundeten zurück.
Jetzt wurden wir von einem lauten, fast gleichschrittähnlichen Tritt aufgeschreckt und sahen die ersten deutschen Soldaten mit erhobenen im Nacken verschränkten Händen unter Bewachung am Haus vorbeigehen. Es war deprimierend, das anzusehen. Nun rollte ein starker Nachschub den Panzern nach. Welches Kriegsgerät wurde da vorbeigefahren und welche Opfer auf beiden Seiten wird es noch bis zum Ende des Krieges erfordern? Nocheinmal (sic) wurde der Nachschub gebremst, vom Hahnscheid her wurde in Richtung Finsterweg geschossen. Nach kurzem Feuergefecht ergaben (sic) sich ein Trupp deutscher Soldaten und der Nachschub rollte weiter.

* Dorfname der Familie Albert Müller, heute Mittelstraße

** Wilhelm Nickel

 

Mittwoch, 28. März 1945

Am nächsten Tag (28.3.1945) mußten einige Bewohner in unserer Nachbarschaft ihre Häuser räumen.
Hannesse, Krills und Molersch fanden für zwei Tage Unterkunft bei Nachbarn, wir haben Molersch aufgenommen.

 

Gründonnerstag, 29. März 1945

Am 2. Tag der Besatzung wurde ein Ausgehverbot erlassen. Man durfte nur zu bestimmten Zeiten die Straße betreten und die Ansammlung / größerer Gruppen war untersagt.
Es war die Karwoche. Gründonnerstag. der 29. März 45, brachte keine besondere Ereignisse.

 

Karfreitag, 30. März 1945

… aber am Karfreitag, dem 30. März erlebte unser Dorf stundenlang einen Durchzug von starken Verbänden und Kolonnen, so wie ich sie noch nicht bis dahin gesehen und erlebt habe. Das Dröhnen der schweren Panzer und Fahrzeuge und Geschütze ließen das Haus erzittern und die Fensterscheiben klirren. Was da in zwei bis drei Stunden an uns vorbeizog, überstieg jegliche Vorstellung. Stämmige Neger am Steuer schwere Laster und schwer bewaffnete Soldaten im Kampfanzug ließen uns schon ein bißchen ängstlich werden.
Nachrichten über Kampfhandlungen und über den genauen Frontverlauf waren kaum zu erfahren. Zeitungen erschienen nicht und über das Radio war nur wenig zu erfahren. Hörte man etwas, so ging es weiter mit der Mundpropaganda.


Ostersonntag, 1. April

Mein Geburtstag fiel in diesem Jahr auf den Ostersonntag. In der vorgegebenen Ausgehzeit machten wir im Eiltempo einen Rundgang um unser Dorf Man wollte doch in der begrenzten Zeit möglichst viel sehen. An diesem Tag sah ich zum ersten Mal in meinem noch jungen Leben einen Toten. Einen gefallenen deutschen Soldaten. Man hatte ihn kurz zuvor im nahen Wald gefunden und ihn zunächst in der Nähe des Bahnhofs niedergelegt, und mit einer leichten Decke bedeckt. Nur das Gesicht war zu sehen. Das junge Gesicht zeigte / keine Spuren einer Verwundung und hatte keine verkrampften Züge. Erschrocken und fast ohnmächtig umstanden wird den toten Soldaten und die ganze Grausamkeit eines Krieges wurde uns deutlich. Am gleichen Tag wurde am Schamottwerk ein weiterer Soldat gefunden. Beide Soldaten wurden auf unserem Friedhof bestattet und die Gräber jahrelang liebevoll gepflegt.

Quelle:
Kreisheimatstelle des Landkreises Limburg-Weilburg (Hg.)
"Eigentlich ist kaum Zeit zum Schreiben ..", Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitzeugen an das Kriegsende 1945 im Landkreis Limburg-Weilburg, Limburg 2005