LM-1945

Niederselters

Erinnerungen von Dr. Köhler

Niederselters, Erinnerungen von Dr. Köhler, S. 382f


Palmsonntag, 25. März 1945

Am 25. März, einem Sonntag, war indessen noch alles ruhig; es war gerade ein herrlicher, gemütlicher, friedensähnlicher Sonntag und auffallend wenig Fliegerdrohung, so daß wir am Morgen nur einmal den Keller aufzusuchen brauchten.


Montag, 26. März 1945

Am nächsten Tag hörte man den Donner der Geschütze schon deutlich näher.
Luftbetrieb stärker! Man erwartete jederzeit das Herankommen der Amerikaner.

 

Dienstag, 27. März - Donerstag 29. März 1945

Einen Tag weiter: Einzelne deutsche Posten mit Maschinengewehren gingen am Garten vorbei. Einer sagte: "Sie hier können heute noch was erleben. " Es geschah aber, wenigstens am Tage, nichts Besonderes. Nur nachts einmal die Donnerschläge. Sprengungen? Am Tage hatte man oben auf der Autobahn am Waldrande schon mehrere feindliche Panzer gesehen. Am nächsten Morgen rückte der Geschützdonner noch viel näher. Da plötzlich! Um halb neun Uhr platzte in allernächster Nähe von uns mit betäubendem Krach eine Granate. Alles war höchst erschrocken, und mit der Schnelligkeit eines gutgeölten Blitzes stürzten wir alle, etwa 12 bis 15 Menschen, in den übrigens hervorragend primitiven Luftschutzkeller, wo Erwachsene nicht einmal aufrecht stehen konnten. Bald darauf ein paar weitere schwere Artillerie-Schüsse. Wie man am nächsten Tag feststellte, hatte die erste Ladung bloß eine Lattenumzäunung eines 25 m von uns entfernten Hühnergewahrsams niedergerissen und zersplittert, die zweite oder dritte aber zwei Menschen vor der unweit entfernten alten Schule getötet, dabei war noch ein Dach halb abgedeckt worden. Zunächst wagte sich niemand mehr aus unserem Keller heraus.
Wir saßen bei Wachskerzen, die drei bis vier Kinder lagen auf Decken am Fußboden. Nun ging eine tolle Schießerei los mit großkalibrigen Geschützen von rechts und links, dem Gehör nach direkt über unser Haus hinweg, und es konnte jede Sekunde bei uns einschlagen. Eine reichlich ungemütliche Lage. Nur zuweilen wurde es drei bis fünf Minuten ein wenig ruhiger. Außerdem fast immer Maschinengewehrgeplärr. Die Kinder waren nicht ängstlich bei ihren zweieinhalb bis drei Jahren und lenkten zeitweise unterhaltend uns alle ab. Gegen 12 Uhr mittags wurde es deutlich eine viertel bis eine halbe Stunde stiller, und zwei Frauen wagten sich hinauf in die Küche, um etwas Essen zuzubereiten. Sie kamen alsbald zurück mit Suppe, Kartoffeln und Gemüse. Und während schweren, wechselnden Kanonendonners - man war schon etwas daran gewöhnt, ich brachte es sogar fertig, des Kellers traurige Weile zu verkür- / zen, über ein paar faule Schlachtenwitze nachzusinnen - wurde das Essen verteilt und sogar mit gutem Appetit verzehrt.
Im Ganzen dauerte der Spuk bis gegen 6 Uhr abends, also rund acht bis neun Stunden; dann wurde es besser, und alle verließen den Keller. Da hieß es plötzlich von den Nachbarn, der Feind hätte mit den Deutschen Verhandlungen angeknüpft. Wenn unsere Waffen-SS nicht sofort zehn Kilometer zurückwiche, müßte binnen einer halben Stunde das ganze Dorf geräumt sein und würde in Grund und Boden geschossen. Entsetzlich! Und wohin? "In die Wiesen" blieb nur übrig. Diese grauenhafte Möglichkeit hatte gerade noch gefehlt; dazu regnete es leicht. Man packte in Kinder- und Handwagen, was man nur hineinpfropfen konnte. Die Frauen weinten. ... Endlich löste sich Jammer und Elend. Die Deutschen hätten sich nach Verhandlungen zurückgezogen.
Was an der ganzen Geschichte wahr ist, weiß ich auch heute nicht; denn als ich eine Stunde später, nachdem alles ganz ruhig war, und die Amerikaner im Dorf Fuß gefaßt hatten, in meinem Nachtquartier eintraf kannte man von den soeben erwähnten Drohungen und Verhandlungen nicht das Geringste. Vermutlich hatte also da ein niederträchtiger Kerl ein gemeines Gerücht ersonnen und in Umlauf gesetzt. Ich schlief dann blendend im Parterre der Emsstraße, trotzdem draußen vor dem Hause und in nächster Nähe Dutzende von Panzerwangen laute Motorenmusik ertönen ließen.

 

Quelle:
Kreisheimatstelle des Landkreises Limburg-Weilburg (Hg.)
"Eigentlich ist kaum Zeit zum Schreiben ..", Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitzeugen an das Kriegsende 1945 im Landkreis Limburg-Weilburg, Limburg 2005