Limburg, Werner-Senger-Schulchronik, S. 205f
19.09.1944
Am 19.9.44 waren wir nachm. in der Schule. Gegen 2 Uhr erfolgte Alarm; da es uns überraschte, gingen wir in die Keller. Dort befanden sich die Klassen Pretz, Gourge, Viehmann u. Becker. Kurz vor 3 Uhr hörte man das Pfeifen u. Heulen der Bomben. Ich beobachtete von der Kellertür aus! Über der Brücken- Vorstadt erhob sich eine unheimliche Rauch u. Staubwolke. ... / ... Kaum hatte sich die Staubwolke über der Br. = Vorstadt verzogen, so erfolgte ein neuer Angriff. Diesmal auf das Bahnhofsviertel. Wieder heulten die Bomben, wir duckten uns auf den Kellerboden, die Detonationen erfolgten, Glassplitter u. zerbrochene Rahmen der Kellerfenster flogen uns um die Köpfe. Die Luft war angefüllt mit Staub u. Qualm, aber wir lebten alle; bald wurde auch die Luft wieder freier. ...
Auch nach diesem Angriff verkündete das Brummen neuer Flugzeuge, daß die Gefahr noch nicht vorüber war. ... Eine neue Welle von 36 Flugzeugen kam an. Sie standen gerade über uns, da kam das Rauchzeichen, erneutes Bombengeheul! Diesmal war das Viertel Diezerstr. - Annastraße, Friedhofsweg, Jos. -Straße getroffen. Dort lagen wohl die meisten u- größten Schäden. Auch mein eigenes Haus, Annastr. 11, war nicht mehr! - Ich wußte es noch nicht!
Donnerstag, 1. März 1945
1. März 1945 ... Inzwischen war die Front an den Rhein vorgerückt; nun befanden wir uns völlig im Kriegsgebiet. Eisenbahnen konnten nicht mehr fahren, die Landstraßen waren übervölkert von zurückflutenden Truppen. Die Bilder, die ich dort sah, erinnerten mich unwillkürlich an Napoleons Rückzug aus Rußland (1813.) - Soldatenhaufen, zum Teil ohne Schuhe u. Uniform, an Stöcken oder Krücken gehend, wechselten mit zurückflutenden Autos, die beschädigt waren u. zum Teil am Wegrand liegen blieben. Es war der Rückzug einer geschlagenen Armee. Ich erlebte dies alles sehr eindringlich, weil ich selbst mehrmals wöchentlich die Landstraße nach Niederbrechen über Lindenholzhausen nach Limburg benützen mußte (trotz meiner 61 Jahre!) Wie oft begegnete mir da der ebenfalls ausgebombte Lehrer Arthen (Sch. 11) der jetzt in Oberbrechen eine Zuflucht gefunden hatte. Er fuhr auf einem Handwägelchen seine Habseligkeiten nach seinem neuen Wohnort. Wie oft fegten wir von der Lindenholzhäuser Straße in die Deckungsgräben, wenn die „Jabos“ (= Jagd-Bomber) über uns ihre Kreise zogen, im Tiefflug die Landstraße beschossen u. auf die nachstehende Flak u. den Flugplatz ihre Bomben abwarfen.
Palmsonntag, 25. März 1945
Am Palmsonntag 1945 (25. März) erlebte Limburg sein längstes und schwerstes Bombardement; es war, Gottseidank, auch das letzte.
Montag, 26.März 1945
Denn einen Tag später (Nach Palmsonntag, den 25. März 1945) zeigten sich in der Stadt auch die ersten amerikanischen Panzerspitzen. Während die berufenen Führer: der Bürgermeister, der Kreisleiter, der Polizeihauptmann sich in Sicherheit brachten, suchten einige SS-Leute die Stadt zu verteidigen. So wurde das Galmerviertel, die obere Diezertraße u. auch wieder mein eigenes Haus von feindlicher Artillerie beschossen. Dann zogen die Amerikaner ein. Die Bevölkerung atmete auf: Jetzt kamen keine Flugzeuge mehr! - Die verwaisten Führungsposten wurden neu besetzt. Die Amerikaner vertreten zwar ihren Sieger-Standpunkt, aber sie waren u. a. menschlich. Härte wurde nur angewandt gegen ehemalige Parteigrößen - Herr Schulrat Fromm trat nach ca. 4wöchiger Beurlaubung sein Amt wieder an. Vorläufig ruht jeder Betrieb bei der Post, der Eisenbahn u. der Schule. Die Beamten, welche aktiv nationalsozialistische Politik betrieben hatten, wurden ihres Amtes enthoben.
Alle Männer, welche z. Zt. ohne Arbeit waren, mußten anderweit (z. Teil mit der Beseitigung von Schutt u.s.w) beschäftigt werden. Sobald die Personenfrage bereinigt ist, wird der Schulbetrieb wieder aufgenommen werden.
Am 27.3.45 zogen die Amerikaner auch hier in Niederbrechen ein. - In meinem Keller verschwanden ca. 10 Flaschen Sekt u. Likör, den Wein ließen sie zunächst liegen. Zwei wertvolle Photo-Apparate musste ich abliefern; aber nachdem der erste / Schrecken vorüber war, zeigten sich die "Amis " i. a. sehr freundlich. Sie vertragen sich mit der deutschen Bevölkerung gut. Natürlich bringt die Besetzung Härten mit sich; besonders unangenehm wirken sich für manche Familien die oft wochenlangen Einquartierungen aus. Der Nationalsozialismus hat uns ein so fürchterliches Erbe hinterlassen, u. uns in ein solches Elend gebracht, wie es vielleicht in Deutschland noch nicht da war.
Blutige Tränen könnte man weinen, wenn man alles überdenkt.
Quelle:
Kreisheimatstelle des Landkreises Limburg-Weilburg (Hg.)
"Eigentlich ist kaum Zeit zum Schreiben ..", Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitzeugen an das Kriegsende 1945 im Landkreis Limburg-Weilburg, Limburg 2005