LM-1945

Limburg

Tagebuch von Georg Wilhelm Hennrich

 

Freitag, 23. März 1945

[Limburg, Tagebuch von Georg Wilhelm Hennrich, Bd. 4, S. 463]

Um 7 Uhr war schon Voralarm und danach fielen die ersten Bomben in der Stadt. Die Bäckereigenossenschaft und das Autohaus Möbus wurden getroffen. Dort gab es 3 Tote und mehrere Verletzte. Schon kurz danach gab es Vollalarm und es geht der Bombenabwurf die Schießerei und die Überflüge der 4 mot. Verbände und Einzeljäger schon den ganzen Tag über. Um 14 h. brachte der Wehrmachtsbericht die Einnahme von Worms. Die Feindtruppen sind über die Mosel zum Rhein gestoßen über den Hunsrück nach Kreuznach, Ludwigshafen und in Mainz sind Straßenkämpfe. Koblenz ist besetzt. Vom Niederrhein bis Worms stehen Amerikaner und Engländer .... Ja es ist eine schwere Zeit. Alles steht unter Waffen von 16 bis 60 Jahren. Ein heroischer Kampf um das Bestehen des deutschen Reiches hat seinen Höhepunkt erreicht. Vom glücklichen Ausgang dieses Völkerringens hängt die Zukunft aller Völker ab. Nur die Mächte dürfen den Sieg davon tragen, die Recht und Freiheit verbürgen, die nicht brutale Gewalt und gemeine Unterdrückung vor das Recht der Völker setzen.


25.03.1945

[Limburg, Tagebuch von Georg Wilhelm Hennrich, Bd. 4, S. 463f]

25.III.45 Heute hat ein schweres Bombardement auf Limburg eingesetzt. Bei drei Angriffen saßen Oma Linchen und ich in unserem Luftschutzkeller. Es war schrecklich. Unser Haus zitterte in den Fugen. Du (Der Enkel Dietmar Müller, in dessen Besitz sich die Tagebücher heute befinden.) und Mami waren bereits bei Voralarm zum Schafsbergstollen (Der Stollen befand sich unterhalb des heutigen Krankenhauses - über der heutigen Theodor-Heuss-Schule, an jenem Weg, der seit des Erweiterungsbaus des Krankenhauses ins Leere läuft.) gegangen. Als die ersten drei Angriffe von Jabos (Jagdbomber) vorüber waren, beschwörte ich Oma sofort unser Haus zu verlassen. Fortwährend sagte ich: "Laß uns sofort zum Stollen gehen, heute muß ganz Limburg dran glauben. " Oma folgte mir. Kaum hatten wir das Haus verlassen, als überall die Bomben herunterprasselten. Wir hatten Glück und kamen halbtot, aber noch lebend, zum Stollen. Jetzt kamen zuerst die Jabo 's, dann 2-motorige und zum Schluß drei Verbände 3-motorige Bomber. Ganz Limburg war in dichtem Dunkel, wie bei einem schweren Gewitter. Als sich der Rauch verzogen hatte brannten überall die Häuser. Wir dankten Gott, dass er uns alles überstehen ließ. Von Vati hören wir nichts mehr, es gibt keine Post.


26.03.1945

[Limburg, Aufzeichnungen von Georg Wilhelm Hennrich,. Bd. 4, S. 464]

26.III.45 abends
Oma-Müllers und Papis großes Geschäftshaus, Grabenstr. 36 (Haus der Familie "Seifen-Müller", heute: Dom-Drogerie-Parfümerie, Grabenstraße 36), liegt vollständig in Trümmern. Zwei Volltreffer haben gestern alles umgelegt. Jetzt brennt das Haus lichterloh. Die Flammen schlagen hoch gegen den Himmel. Die ganze Stadt ist hauptsächlich vom Brand erleuchtet. Wir müssen alle die kommende Nacht im Stollen bleiben. Du schläfst bereits im großen Korb. Mami und ich haben noch allerlei zu tun. Im Gymnasium gibt's Lebensmittel.


27.03.1945

[Limburg, Aufzeichnungen von Georg Wilhelm Hennrich, Bd. 4, S. 464-469]

27.III.45.
Nachdem Amerikaner vor die Tore der Stadt Limburg angelangt und einige Panzer über die alte steinerne Brücke gerollt waren, sprengten die Nazi's der Stadt Limburg diese Brücke, nachdem sie die Staffeler-Eisenbahnbrücke und die Limburger-Autohahnbrücke schon am Tage vorher teilweise in die Luft gesprengt hatten. Wir alle, auch Du, hielten uns in dieser Nacht vom 26.III auf den 27. III im Städtischen-Stollen am Schafsberg auf. Es war eine fürchterliche Aufregung unter allen Einwohnern, Soldaten und den Naziführern. Sie wollten die Stadt verteidigen. Als die Amerikaner - einige Offiziere - als Parlamentäre zum Domstollen kamen, worin auch ein Teil / der " Gestapo " - Geheime Staatspolizei - hauste, forderten diese den Bürgermeister Hollenders (Willi Hollenders, Bürgermeister von Limburg 1933-1945), den Kreisleiter Ohl (Karl Ohl, am 7.9.1904 in Birlenbach geboren, war NS-Kreisleiter), Hauptmann der städtischen Polizei Schlicht (Polizeihauptmann August Schlicht (1890-1968)), Oberstleutnant Marxheimer (Oberstleutnant Maxeiner - so die offizielle Schreibform - war Leiter der Wehrbezirkskommandantur im Haus Schiede 28, das beim Fliegerangriff am 25. März 1945 total zerstört wurde.) auf, die Stadt kampflos zu übergeben, was abgelehnt wurde.
Darauf zogen sich die amerikanischen Herren zurück und begannen die Beschießung. Inzwischen hatten sich die Nazis aber schnell verdrückt und das Weite gesucht. Nur außerhalb der Stadt kämpften einige Gestaponester. Ich stand während dieser Zeit oben am Schafsbergstollen und hörte den Befehlen des Führers des Volkssturm, Sturmbannführer der S. A. Schaub und dessen Vertreter Lieber zu. Beide waren in großer Erregung ob der unerwarteten Ereignisse, Schaub wurde als Nachfolger des damaligen Obersturmbannführers Schmidt - jetzt Standartenführer in Wetzlar - uns (Familie Hennrich) am 1. März 1944 vom Bürgermeister Hollenders zwangsweise einquartiert, jedenfalls aus dem Grunde, das (sic) ein Nazi einen Antinazi beobachten sollte. Vorher hatte Schmidt vom 9. Sept. 1943 bis Ende Februar 1944 das Zimmer von Schaub inne.
Wir wurden bald bekannt, und aus diesem Grunde vertrauten beide, besonders aber Schaub, mir und uns allen die Vorgänge in der Partei an, die ich dann meinen bekannten Antinazifreunden übermittelte. Das Telefon zwischen unserem Hause und der S. A. Standarte war täglich in Bewegung und des öfteren wurden wir von der Standarte beauftragt, Schaub Nachrichten bei seinem Eintreffen zu übermitteln. Kurze Zeit vor dem Eintreffen der Amerikaner waren sämtliche Telefone Limburgs, mit Ausnahme der Kriegswichtigen, ausgeschaltet, aber unsere No. 348 mußte sofort wieder eingeschaltet werden, weil Schaub von hier aus seine Anweisungen gab. Er telefonierte vom Herrenzimmer aus, wogegen ich am Radio im Wohnzimmer saß und anscheinend der Musik zuhörte. Als aber Schaub sprach, stellte ich die Übertragung ganz leise, und so hörte ich alles, was nebenan von Schaub gesprochen wurde. So war es auch einige Tage vor dem Eintreffen der Amerikaner. Schaub hatte mehrer Naziführer, darunter Volkssturmkompanieführer Deis, den Leiter der Nazional-Politische-Erziehungsanstalt (Nicht der Leiter der NAPOLA Oranienstein, könnte aus St. Wendel im Saarland sein, frdl.
Hinweis von A. Morlang.) kurz Napolileiter - um sich versammelt. Aus dem Gespräch konnte ich feststellen, daß Schaub mit der Kreisleitung sprach. Panzer seien durchgebrochen an irgendeiner Stelle vor Limburg, aber keiner wußte wo sich die DurchbruchsteIle befand. Er gab seine Anweisungen inbezug auf Bewaffnung des Volkssturms - junge Leute von 16 Jahren und ältere, kranke und kriegsversehrte Weltkriegteilnehmer und solche, die aus diesem Kriege als untauglich entlassen worden waren bis zu 60 Jahren - mit Handwaffen und Panzerfäuste. Aus den nachfolgenden, vielen sich überstürzenden Anrufen - das Telefon läutete ununterbrochen - vernahm ich, daß Gestapoleute in Wehrmachtsuniformen getarnt werden sollten, um sich unter den (sic) vielen, der Front entlaufenen Soldaten zu mischen, die den ungleichen, nutzlosen, aussichtslosen, zwecklosen Kampf, nur zur längeren Intakthaltung des verbrecherischen Parteiapparates, längst eingesehen hatten, zu fassen und dem Feldgericht, das im Gymnasium unter Vorsitz eines Feldrichters amtierte, zuzuführen. Das Urteil durfte nur kurzweg lauten: "Schuldig oder unschuldig, frei oder erschossen." Ich befand mich in sehr großer Aufregung und überlegte, wie ich schnellstens und bestens meinen Freunden und den Soldaten diese Nachricht überbringen könnte. Als eine Telefonpause entstand, da Schaub vor Schwäche nicht mehr konnte und zum Wohnzimmer schritt, stellte ich schnell die Musik im Radio lauter und stellte mich, im Sessel zurückgelehnt, schlafend.
Schaub meinte, ob ich müde sei, was ich bejahte, und ich bat ihn, sich etwas auf dem Sofa auszuruhen. Ich zog mich zurück und begab mich beim nächsten Alarm zum Schafsbergstollen und teilte meine Ablauschungen Herrn Amtsgerichtsrat Dannhausen (Walter Dannhausen, Landrat des Kreises Limburg 1.4.1945-30.6.1948) und Reg. Rat Engel mit.
Später ging ich auf Stöcken, mein Gesundheitszustand ist schlecht - zu vielen Soldatengruppen und stellte die echten Soldaten bald fest. Ich zog sie beiseite und warnte sie. Eine Gruppe getarnter Gestapoleute hatte ich bald erkannt, als sie mich frugen, ob ich nicht soeben einen Soldaten ohne Kopfbedeckung und Koppel / hätte fortlaufen sehen. Als ich dieses verneinte, aber sagte, er könne nur in Richtung zum Stollen gelaufen sein aber nicht den Berg hinunter, sagte sie: "Na, dann lass ihn laufen, der ist durchgegangen." In Wirklichkeit war der Uffz. herunter gelaufen und durch den Garten des Herrn Reuß nach Staffel gelaufen. Später hörte ich, daß derselbe zum Tode verurteilt worden war und abgeführt werden sollte zum Erschießen. Man hatte ihn hinten am Koppel festgehalten, und er hatte das Koppelschloß geöffnet und war davongelaufen in seiner Todesangst, die Gestapomänner mit dem Koppel in der Hand zurücklassend in ihrer Verdutzheit. Schnell war er zwischen den Bäumen herlaufend, dem Zugriff seiner Häscher entschwunden.
Später begab ich mich in Begleitung der Herren Dannhausen und Engel hinauf zum Pavillon (Befand sich am Ende des Weges, der heute oberhalb der Theodor-Heuss-Schule, unterhalb des Fußweges zum St.- Vincenz-Krankenhaus ins Leere läuft), links vom Stollen den schmalen Weg hinauf Oben angekommen - es war inzwischen Vollalarm - setzten wir uns zu Dreien auf die Bank und beobachteten die einfliegenden Bomben verbände. Als wir so in unserer Unterstellung vertieft da saßen, kamen plötzlich Schaub, Kreisleiter Ohl und Lieber angestürzt und rannten vorbei zum Ausblick. Im Vorbeigehen sagte Schaub: "Sie haber: sich ja. weit nach oben gewagt." Man muß diesen Ausspruch richtig verstehen, denn alle Männer bis zum 60. Lebensjahr einschließlich, die sich ohne fremde Hilfe allein fortbewegen können, mußten zum Volkssturm, worin man mich wohl haben wollte und Aufforderungen zum Stellen sandte, wohin ich aber nicht ging. Gut war es, daß ich zwei Begleitpersonen bei mir hatte (sic). Ich antwortete: "Hier oben sitzt man gut, und man kann seine Beobachtungen machen." In diesem Moment kam Lieber angesprungen und sagte: "Was haben sie beobachtet, waren das Lastensegler, hatten die Flugzeuge besondere Merkmale und gaben die Signale?" / Ich antwortete, daß es sich hier m. E. um einfache 4mot. Bomber gehandelt hätte und daß ich keinerlei besondere Merkmale festgestellt hätte. - In Wirklichkeit war es mir aufgefallen, dass diese Flugzeuge sehr groß waren und dass an den ersten so etwas wie ein großer Scheinwerfer war. Wie gesagt, dieses alles spielte sich in den letzten Tagen der Nazi-Herrschaft von Limburg ab.
Am heutigen Tage waren nun einige Tanks über die Brücke gerollt, als dieselbe in die Luft gesprengt wurde. Die Nazis wollten die Stadt nicht kampflos übergeben. Nachdem sich nun die Amerikaner zurückgezogen hatten eröffneten dieselben vom rechten Lahnufer aus Artilleriefeuer auf den Domstollen und auf die Stadt. Ich stand vor dem städt. Stollen oben auf dem Schafsberg. Volkssturmleute und überhaupt alle männlichen Personen von 15 - 60 Jahren wurden aus den einzelnen Stollen herausgeholt und sollten mit H- Waffen und Panzerfäusten bewaffnet den amerikanischen Panzern entgegen geworfen werden. Ein Teil der Volkssturmleute ging mit Panzerfäusten den Schafsberg hinunter, und ich hörte die kleinen Panzerkanonenschüsse fortwährend einschlagen. Ferner konnte ich von meinem Platz aus die Wörthstr (Heute Josef-Ludwig-Straße) und besonders die Gefängnismauer Ecke Wörth- und Walderdorffstr. gut beobachten, worum ständig bewaffnete Soldaten herumschlichen, sich an der Ecke zu Boden warfen und um die Straßenecke die Panzer beschossen.
Inzwischen rollten von der Meil-Straße von Obertiefenbach und Offheim her Panzer auf Panzer und Lastkraftwagen, Artillerie und dgl. auf Limburg zu. Wegen der gesprengten Lahnbrücke und der Autobahnbrücke mußte das Ganze - Halt machen. Was oben vor dem Stollen noch an Volkssturmmännern war wurde fast ausschließlich von Lieber / radikal in den Kampf getrieben. Aber wir sorgten schon dafür, daß ein großer Teil dieser Männer links vom Stollen nach Staffel zu abschwenkten, was bereits von den Amerikanern besetzt war. Dieselben hatten leichtes Handeln, denn Uniformen besaßen die Volksstürmer nicht. Sie waren als Kampfeinheiten anerkannt nur mit einer Armbinde. Außerdem hatten sie noch Tarnjacken an. Dieses Gerumpel warfen sie unterwegs ab und gingen dann ruhig und friedlich weiter. Kein Mensch hatte Lust für die Nazis zu kämpfen, geschweige denn in letzter. Minute sein Leben zu lassen. Wir als Antinazi's sagten immer: " Unsere Feinde verlieren den Krieg." Und richtig, sie haben ihn gründlich verloren. Wir haben lediglich nur die Nazis für unsere Feinde und für Verbrecher gehalten.

[Limburg, Aufzeichnungen von Georg Wilhelm Hennrich, Bd, 4, S. 469-474]

 

27. März 1945

(Nachtrag vom 10. April 1945)

10.IV.45
Eigentlich ist kaum Zeit zum Schreiben, aber ich muß es tun weil gerade diese Eintragungen sehr wichtig für Dich und vielleicht für viele andere sind. So will ich die letzte Nacht während des Einmarsches der Amerikaner und den vorangegangenen letzten Kampfabend des im Absterben begriffenen Nazireiches schildern. Es war die Nacht vom 26. auf den 27. III 45. Als ich auf den Höhen des Schafsberges stand und in die brennende Stadt hinunterblickte, waren meine Augen starr auf Oma-Müllers und Papis rauchendes, lichterloh die Flammen zum nächtlichen Himmel steigenden, immer kleiner werdenden, ehemals schönen, bedeutenden Anwesens gerichtet (Heute: Dom-Drogerie-Parfümerie, Grabenstraße 36.), und ich dachte, wie in ein paar Stunden eine Arbeit des ganzen Lebens zerstört wird, ohne dagegen irgendetwas einwenden zu können. Als am Vortage des Brandes die Bomben einschlugen war nur ein Teil zerstört, und sehr viel hätte für die Zukunft gerettet werden können, würde die Limburger Feuerwehr rechtzeitig eingegriffen haben. Der Brand hätte gelöscht werden können. Aber man ruhte gemächlich auf den Lorbeeren / (... sagte), daß er für die Fa. Joseph Müller nichts tue. So wurde das ganze Anwesen fast ein Raub der Flammen.
Als Du schon im Stollen schliefst, wandte ich meine Augen ab und ging, während Mutti und Oma-Linchen bei der Lebensmittelausgabe im Gymnasium sich einige Vorräte für die kommende schwere Zeit geben ließen und diese zum Stollen beförderten, mit diesen Vorräten in die Nähe des Stolleneinganges und beförderte mit vier Italienern während der Nacht diese nach Hause. Die Italiener haben mir bei Tag und Nacht fast vier Monate lang vom 25. November 1944 bis zum Einzug der Amerikaner ständig bei Alarm geholfen, den Schafsberg hinanzusteigen, ... haben mich meistens buchstäblich hinaufgetragen. Dafür habe ich sie, wie es mir möglich war, nur mit Lebensmittel und Cigaretten entlohnt. Manchmal habe ich, wenn ich weiter nichts hatte, die letzte Cigarette aus dem Mund genommen und sie ihnen gereicht. Nachdem wir mit der Bergung der Lebensmittel fertig waren, gingen Mutti und ich alleine in den Stollen der Standarte, um etwas zu ruhen, weil es vor dem Stollen recht empfindlich kalt war. Es war mondhelle Nacht. Als wir im Stollen etwas geruht hatten - die Luft hatte so wenig Sauerstoff, daß keine Kerze brannte - stieß ich beim Verlassen des dunklen Stollens gegen ein menschliches Wesen. Ich frug:
" Wer sitzt da " und erhielt zur Antwort: "Ich muß hier warten. " Meine nächste Frage: "Sind Sie Soldat?" Antwort ja. Ich befahl ihm sofort seine Uniform auszuziehen. Er frug mich, wer ich sei. Zur Antwort gab ich, dass ihn dieses nichts angehe. "Was haben Sie mit mir vor", war seine Frage. Jedoch ich drängte, daß er die Uniform ablegte und war ihm beim Ausziehen des Waffenrockes behilflich. Er ließ dieses / fast wortlos geschehen. Ich hüllte ihn in meine Schlafdecke, befahl ihm nichts zu reden und nur mich sprechen zu lassen.
So verließen wir die stickige, im Bunker eingebaute Kammer und gingen durch den Stollen ins Freie. Hier standen eine Menge Menschen im Mondschein. Um meine komische, eingehüllte Gestalt etwas weniger Zweifelhaftes zu geben, sagte ich: "Ein kranker Mann hat sich im Stollen den Rock ausgezogen, weil es ihm zu warm wurde, und während er so da schlief hat ihm doch irgendein Gauner seinen Rock entwendet. " Darauf ging ich weiter und rief: "Kommen Sie mit mir nach Hause, ich gebe ihnen einen Rock von mir. Unterwegs stellte sich heraus, daß es ein Battl. Führer des Volkssturm war zur besonderen Verwendung z. b. V - Er war aus diesem Kriege als Major hervorgegangen und wegen seines Leidens entlassen worden. Im letzten Moment hatte man ihn noch als Kanonenfutter zum Volkssturm geholt, und zwar nicht als Battl. Führer, sondern z. b. V., d. h. er wird im Notfalle eingesetzt als solcher, da er im übrigen als Katholik politisch nicht einwandfrei ist. Zu Hause angekommen kochte ich Kaffee, machte ein Frühstück, währenddessen Major Jeck von Niederhadamar (Anton Jeck war seit 1. 9.1920 Lehrer in Niederhadamar. Er hatte im 1. Weltkrieg den Rang eines Hauptmanns erworben, wurde am 28.8.1939 sofort eingezogen und war seit dem 1.8.1942 zum Major befördert, der ranghöchste Offizier unter den aus Hadamar eingezogenen Männern. Er trat am 1.5.1947 in den Ruhestand, frdl. Mitteilung von Peter Paul Schweitzer, Hadamar.) in meinen grauen Civilanzug kroch. Nach dem Frühstück half er mir noch ein wenig im Keller, und dann stolzierte der der Kriegsgefangenschaft entgangene Civilist der Heimat zu, wo er von seiner vor Freude weinenden Frau umarmt und jedenfalls auch geküßt wurde. Zum Andenken schenkte mir Major Jeck diesen Füllfederhalter mit dicker Goldfeder, womit ich jetzt diese Zeilen niederschreibe. Nach acht Tagen brachte er mir den Anzug zurück und erzählte mir seine Ankunft in Niederhadamar. / Ich selbst legte mich nach seinem ersten Abschied als Civillist (sic) einige Stunden zur Ruhe, was mir guttat, denn der Tag sollte für mich recht lange dauern und bedeutend werden.
Am gleichen Tage kleidete Mutti noch einen der entlaufenen Volkssturmsoldaten in Civil um. Sie steckte ihn in eine Hose von Vati, und zwei bei uns gerade anwesende holländische Civilarbeiter gaben ihm eine blaue Arbeitsjacke. So gondelte er ab zur Stadt, wo er selbst Civilkleider hatte und sich sofort umzog. Danach brachte er die geliehenen Sachen zurück.
Am Abend dieses Tages der amerikanischen Besatzung in Limburg kam Mutti in Begleitung eines amerikanischen Offiziers nach 18 Uhr nach Hause. Die Ausgangszeit war von 8 Uhr morgens bis 18 Uhr abends. Nach 18 Uhr durfte niemand mehr die Straße passieren, falls er nicht der Gefahr sich aussetzen wollte, verhaftet oder erschossen zu werden. Dieser Offizier war zufällig der neue Kommandant von Limburg, Kapitän Lueck C.i.C. (Über Kapitän Lueck C. i. C. ist bisher nichts weiter bekannt. Er kann als eine Art Stadtkommandant der kämpfenden Truppe für die öffentliche Ordnung unter der Militärverwaltung in den ersten Tagen der Besatzung verantwortlich gewesen sein.) Er sprach deutsch, jedoch nicht fließend. Er behauptete, uns zu verstehen und auch wir verstanden ihn, aber wir merkten bald, daß er uns nicht richtig, wenigstens nicht alles verstand, was wir ihm erzählten. So bat er uns dann um 20.30 Uhr (8 1/2 Uhr abends) mit einem Dolmetscher wiederkommen zu dürfen und richtig kam er auch pünktlich zur festgesetzten Zeit ein (sic). Wir freuten uns sehr zu hören, daß der Dolmetscher aus New-York war und Deinen Großonkel - mein Bruder - Josef, gut kannte aus Wort und Schrift. Persönlich kannte er ihn zwar nicht, aber das schadete auch nichts. Im Laufe des Gesprächs hörten wir, daß Capitän Lueck Rechtsanwalt war. Jedenfalls begrüßten uns beide bei ihrem Kommen mit Handschlag, gaben uns (Ehepaar Hennrich und Tochter, Frau Müller) ihre Helme und Waffen an der Garderobe ab und begaben sich ins Wohnzimmer. Der Dolmetscher saß mir gegenüber im Sofa, Oma am Kopf des Tisches, Mutti ihr gegenüber im Sofa und / Capitän Lueck rechts von mir. Sein Großvater war Deutscher, und er behauptete fortwährend, daß ich genau spreche wie dieser und er sich immer in Gedanken diesen vorstelle. Er bediente uns mit Cigaretten während Oma die Flasche Wein kredenzte, einen prämierten Mosel, den wir einige Monate früher von einem Weingutsbesitzer, der etwa 8 Tage bei uns im Quartier lag, erhalten hatten. Er kam auch bald mit einer Liste an, die Namen von Limburger Bekannten erhielt (sic), die sich freiwillig zum Dienst gemeldet hatten. An der Spitze standen Oberinsp. Schneider (Joseph Schneider, Bürgermeister von Limburg 1945-1960) und Wahl. Er frug uns, was das für Herren seien. Ich sagte, daß Schneider ein "Pfundskerl", kein Nazi und schon immer der eigentliche Bürgermeister gewesen sei. Der Ausdruck "Pfundskerl" wurde ihm vom Dolmetscher / lachend übersetzt, und er freute sich sehr darüber, worauf der Dolmetscher sagte: " Herr Capitän läßt vielmals danken ", worauf dieser uns Cigaretten bot. Bezüglich Wahl erklärte ich, daß ich diesen nur oberflächlich kenne und letztmalig mich in der Nacht vor ihrem Einzug in Limburg in Gegenwart von Frau Dr. Uerpmann unterhalten habe. ...
Darauf erkundigte er sich nach Frau Uerpmann und ich sagte, daß Dr. Uerpmann (Dr. Uerpmann, Landrat des Kreises Limburg 1.1.1934 - Juli 1944) bis 1944 Landrat des Kreises Limburg gewesen sei und schon etwa ein Jahr festsitze, was mit dem 20. Juli zusammenhänge (Uerpmann hängt jedoch nicht mit dem 20. Juli 1944 zusammen, wie ich Frau U. persönlich erklärte.) Wir hatten die Rede von Dr. Ue., da er aber SS. Sturmbannführer oder Sturmführer war, komme er, selbst wenn er z. Zt. in Limburg anwesend sei, nicht für den Posten eines Landrates in Frage. Auf der mir vorgelegten Liste standen hinter Schneider mit Bleistift vermerkt: "Bürgermeister' bei Wahl "Landrat".
Der Dolmetscher frug mich, wie es mit mir sei, ich müße unbedingt mithelfen, wünschte der Capt. Ich sagte, daß ich krank sei und wohl im Notfalle den Bürgermeister vertreten wolle, auch sei ich zur Mitarbeit, soweit es in meinen z. Zt. schwachen körperlichen Kräften stünde, (bereit). Cap. Lueck sagte: " Sie sollen nur für Deutschland arbeiten, nicht für Amerika. " Ich sagte ihm meine Mitarbeit zu und ließ hinter den Personen, die regelrechte Menschenschinder und willige Handlanger in den Händen der führenden Nazibonzen waren, setzen: " Taugt nichts, Nazi, ..." Dann frug er uns alle: "Kennen sie Edelweiß?" worauf wir antworteten: "Ja" Aber er meinte nicht die Alpenblume, sondern die Edelweißpiraten, die gegen die Hitlerjugend kämpften, wovon wir alle allerdings bis dato noch nichts gehört hatten. /... Die Unterhaltung zog sich bis gegen 2 Uhr nachts hin, wobei wir drei Flaschen Mosel tranken. Wiederholt sagte er mir. "Herr Hennrich, wir werden ihre Mithilfe noch sehr oft in Anspruch nehmen, dürfen wir morgen abend um die gleiche Zeit wiederkommen?" Dieses bejahte ich gerne, denn die ganzen Unterredungen hatten mir sehr viel Spaß gemacht, und ich freute mich darüber, daß ich dabei Gelegenheit fand, die aufrichtigen Männer, die Anti-Nazis, ihm in der Unterhaltung bekannt zu machen und die Nazis aus den Listen entfernen zu können. Amtsgerichtsrat Dannhausen, der nicht auf der ersten Liste stand, ließ ich durch Mutti noch nachtragen, ebenfalls unseren Nachbarn Pötz. Nach Verabschiedung gingen wir gegen 2 ½ Uhr zu Bett. Cap. L. hatte Mutti und mich für den nächsten Morgen 10 Uhr im "Hotel zur alten Post", welches beschlagnahmt wurde, eingeladen. Beim Fortgehen sagte ich ihm noch, daß der Nazi-Bürgermeister die meiste Zeit im sicheren Stollen verbracht hätte, was Herrn Schneider und Dannhausen - letzterer führe das Kriegsschädenamt - Gelegenheit gab, am Radio des Bürgermeisters inzwischen die Auslandssendungen zu hören. Das gefiel ihm. Darauf gingen die Herren.

[Limburg, Aufzeichnungen von Georg Wilhelm Hennrich. , Bd. 4, S. 474]

 

20. April 1945

Adolf der Erste und der Letzte feierte heute seinen 56. Geburtstag. Es wird wohl der letzte sein, den er in seinem Leben, erfüllt von Wahnsinnsideen und Verbrechertum, zu feiern hat.

 

 

Quelle:
Kreisheimatstelle des Landkreises Limburg-Weilburg (Hg.)
"Eigentlich ist kaum Zeit zum Schreiben ..", Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitzeugen an das Kriegsende 1945 im Landkreis Limburg-Weilburg, Limburg 2005